2020-05-02

„Wer Ohren hat, zu hören, der höre!“

Ein Rundbrief, geschrieben von drei Brüdern aus der Schweiz im März 1916, ist uns kürzlich zu Händen gekommen; im Folgenden ist die Übersetzung:

»Liebe Brüder und Schwestern,

wir möchten Euch ein Anliegen vorlegen, ein Bedürfnis, das von einer großen Anzahl Brüder verspürt und auch bekundet wurde: einen Tag der Demütigung und dem Gebet zu weihen.

Seit Beginn der schrecklichen Zeit, die wir momentan durchleiden, haben nicht wenige unter uns den Gedanken geäußert, dass eine nationale Demütigung, zum Ausdruck gebracht durch Fasten, die Haltung aller Völker sein sollte, die unter die Gerichte Gottes gestellt sind. Wenn Demütigung bewirkt wurde, konnte die göttliche Rute zurückgezogen werden, so wie in den Tagen Jonas Ninive verschont wurde, als der König ein Fasten ausrief und öffentliches Gebet stattfand. Dieser nationale Glaube (der sich vom echten Glauben sehr wohl unterscheidet) bestand in der Anerkennung der Tatsache, dass das Strafgericht verdient war. Gott trug dem Rechnung und zog für den Moment Seine Hand zurück, so dass Er, ohne bei dieser Gelegenheit die Prinzipien Seiner Regierungswege zu verändern, Ninive noch zwei Jahrhunderte lang verschonte.

Liebe Brüder und Schwestern, uns ist in Bezug auf die Nationen keine solche Rolle anvertraut, wie Jona sie besaß. Der Grund dafür ist dieser: Inmitten des gegenwärtigen Unheils müssen wir zuerst anerkennen, dass dieses Gericht über uns Gläubige kommt, sogar mehr über uns als über die Welt: "… dass das Gericht anfange bei dem Haus Gottes" (1. Petrus 4,17). Wir haben nicht nur unsere erste Liebe verlassen, sondern als kollektives Zeugnis sind wir zurückgefallen zur Kälte Sardes’ und zur Lauheit Laodizeas (Offenbarung 3), und woher nähmen wir die Autorität, die Welt zur Buße aufzurufen? Daher lasst uns nun bei uns selbst beginnen. Erst nachdem Jona das Gericht seiner eigenen Schuld getragen hatte, konnte er ein Sprachrohr Gottes an die Welt werden.

Wir wenden uns denn an Euch und sagen: Lasst uns die ersten sein, uns selbst zu demütigen. Lasst es uns nicht lokal beschränkt oder nach Nationalitäten tun, noch weniger als unabhängige Sekten, sondern als solche, die berufen sind, Zeugnis zu geben von der Einheit des Leibes Christi auf der Erde; und wenn wir dies tun, gilt uns das Wort Davids: "Vielleicht wird der HERR mein Elend ansehen" (2. Samuel 16,12).

Wir weisen nochmals mit Nachdruck darauf hin, dass wir in keiner Weise Brüder zu äußerlicher Demütigung einladen, welche die Welt nachahmen könnte. So verstanden, führte unser Anliegen nur zu einer nichtigen Show. Unsere Demütigung darf nicht auf Anweisung geschehen, sondern muss eine echte Not des Gewissens sein. Diejenigen unter uns, die keine solche Not verspüren, sollen sich fernhalten; diejenigen, die spüren, dass ihr eigener moralischer und geistlicher Zustand dieses Unglück notwendig gemacht hat, sollen mit uns das Angesicht Gottes suchen, und wenn auch viele sich zurückhalten, sollen sie doch zumindest versichert sein, dass unsere Herzen, die sich vor Gott einfinden werden im Bewusstsein der Gemeinschaft aller Heiligen, sie in diese gemeinsame Demütigung mit einschließen werden.

Wir sind zuversichtlich, dass göttliches Mitgefühl auf die gottgemäße Betrübnis des Herzens antworten wird und Buße zum Heil wirken lässt. Wir sollten diesbezüglich keine Sorge haben (2. Korinther 7,10), denn wenn wir uns unter das gerechte Urteil Gottes beugen, bringt die Demütigung uns zurück zur echten Absonderung von der Welt (Nehemia 9,1-2), ebnet uns den Weg (Esra 8,21) und ist der Auftakt zu rechtzeitiger Hilfe, die unserem Glauben gewährt wird (Daniel 9,3.13.23).

Wenn diese Demütigung vollumfassend verwirklicht wird, wird sie - so haben wir Grund zur Annahme und ebenso wünschen wir es uns - von Fasten begleitet sein, welches weder festgelegt noch öffentlich geschieht wie unter dem Gesetz und anerkannt von den Menschen, sondern welches umso echter ist, als das Ergebnis unserer durchlittenen Trauer wegen unserer Untreue und wegen unserer Trennungen, die den Namen Christi verunehrt und den Heiligen Geist betrübt haben, durch den die Christen zu einem Leib gebildet sind.

Doch ist nicht die Hauptursache für all das Durcheinander unter uns unsere Anpassung an den gegenwärtigen Zeitlauf? Wir haben zugelassen, dass wir seit der Zeit der Erweckung nach und nach gleichgültig geworden sind - ein Niedergang, der die moralische Gleichförmigkeit mit der Welt zum Ergebnis hat. Wir folgen denselben Zielen wie sie: geschäftlicher Erfolg, finanzieller Gewinn und damit einhergehender Luxus, Verbindung mit Ungläubigen, Streben nach weltlichen Ehren und das Verlangen, uns in der Welt hervorzutun.

Was sollen wir mit Blick auf diesen stolzen und selbstgerechten Geist sagen, über diesen Mangel an Liebe, mit dem wir unsere Brüder so oft abgestoßen haben, anstatt sie anzuziehen?

Was sollen wir außerdem zu unserer Untreue in der Familie sagen, zur Trägheit der Eltern in Bezug auf ihr Zeugnis zu Hause, zur mangelnden Ernsthaftigkeit bei der Erziehung der Kinder in der Zucht des Herrn, sodass den Kindern zugelassen wurde, die leichten Wege moralischer Freizügigkeit und des Verderbens zu gehen?

Was sollen wir schließlich über unsere persönliche Untreue sagen, über den Mangel an Besonnenheit und Achtsamkeit hinsichtlich unserer Begierden, über das Streben nach materiellen Freuden, über die Habgier, die Götzendienst ist?

Wir haben in hohem Maße vergessen, was der Charakter des Christen ist, nämlich Christus: Seine Demut, Seine Hingabe, Sein Gehorsam. Wir haben Ihn, unser Vorbild und erstrebenswertes Ziel, aus dem Blick verloren. Und zu alledem kommen noch der mangelnde Eifer um die Interessen des Herrn vor der Welt und die Gleichgültigkeit im Hinblick auf die Versammlung. Wir haben den Blick für die Tatsache verloren, dass, wenn wir zusammenkommen, wir um den Herrn versammelt sind, das Zentrum der Versammlung der Seinen. Daraus folgten das Streben nach Anerkennung vor den Menschen und die Leichtigkeit, mit der das Zusammenkommen als Versammlung aufgegeben wurde, um attraktiven Predigten hinterherzulaufen.

Auch müssen wir unser geringes Interesse am Wort bekennen sowie die schädliche Literatur benennen, die es verfälscht oder von ihm wegzieht. Daher rührt die geringe Bedeutung, die der Bewahrung des Wortes beigemessen wurde - der Grundlage, die leichtfertig zugunsten einer weiteren Grundlage und lockerer Lehre aufgegeben wird.

Liebe Brüder und Schwestern, weil dieser Aufruf aus der Schweiz kommt, einem Land, das gegenwärtig noch vom Krieg verschont geblieben ist, sind wir verpflichtet, Euch zu bezeugen, dass wir uns dieser Gunst überhaupt nicht würdig fühlen und dass unsere Demütigung tief und aufrichtig ist, weil wir doch demselben Gericht ausgesetzt sind wie Ihr. Indem wir uns gemeinsam mit Euch unter die mächtige Hand Gottes demütigen, laden die Unterzeichner dieses Schreibens Euch von überall her ein zu diesem Tag des Demütigens, des Gebets, der Fürbitte, des Fastens. Lasst uns gewiss sein, dass solche Empfindungen eine Antwort im Herzen unseres liebevollen Vaters finden werden, der bereit ist, uns seine Rettung zu gewähren.

"Ich tat dir meine Sünde kund und habe meine Ungerechtigkeit nicht zugedeckt. Ich sprach: „Ich will dem HERRN meine Übertretungen bekennen“; und du hast die Ungerechtigkeit meiner Sünde vergeben. - Sela. Deshalb wird jeder Fromme zu dir beten, zur Zeit, da du zu finden bist; gewiss, bei großen Wasserfluten - ihn werden sie nicht erreichen. Du bist ein Bergungsort für mich; vor Bedrängnis behütest du mich; du umgibst mich mit Rettungsjubel. - Sela. Ich will dich unterweisen und dich den Weg lehren, den du wandeln sollst; mein Auge auf dich richtend, will ich dir raten" (Psalm 32,5-8).

"Ist für den HERRN eine Sache zu wunderbar?" (1. Mose 18,14).

Da es aus schwerwiegenden Gründen nicht möglich war, das Datum auf einen Sonntag fallen zu lassen, und damit für alle eine Teilnahme möglich wird, haben wir uns für einen Feiertag entschieden:

Ostermontag, den 24. April.

Das Datum der Veranstaltung ist zweifelsohne noch recht weit entfernt, doch wird uns das Zeit zur Übung vor dem Herrn in Bezug auf all das geben, was uns demütigen muss, was wir zu bekennen und aufzugeben haben.

Eure Brüder in Christus,

J. Bernard

S. Prod’hom

H. Rossier«

 

Der Geist in all diesem ist gut und die Worte vortrefflich. Heute ist es zu spät, um gemeinsam mit unseren Brüdern an der Versammlung an oben genanntem Datum teilzunehmen; doch dürfen wir uns im Geist mit ihnen verbinden und auf den Herrn hoffen, damit dieses gute Begehren nicht im Keim erstickt wird, sondern die Worte in Taten vollendet werden. Vom Volk Gottes steht geschrieben: "HERR, in der Bedrängnis haben sie dich gesucht; als deine Züchtigung sie traf, flehten sie mit flüsterndem Gebet. Wie eine Schwangere, die, dem Gebären nahe, sich windet und schreit in ihren Wehen, so sind wir gewesen, HERR, fern von deinem Angesicht. Wir gingen schwanger, wir wanden uns; es war, als ob wir Wind geboren hätten: Rettung verschafften wir dem Land nicht, und die Bewohner des Erdkreises sind nicht gefallen" (Jesaja 26,16-18).

Es genügt nicht, die vortrefflichsten Wahrheiten und die besten Wünsche zu haben. Eine Tat ist besser als tausend Theorien. Wenn der Name Christi ausreicht, um all die Seinen in eins zusammenzufügen in der Einheit des Geistes, dann lasst ihn auch uns genügen, in Praxis und Wahrheit, in der Tat und nicht nur im Wort. Doch denken wir daran, dass das Anerkennen Seines Namens das Aufgeben all dessen mit sich bringt, offen und ehrlich - à haute voix (mit erhobener Stimme) -, in Glaube und Tat, das wir höchst heilig hielten, an das wir uns hartnäckigst klammerten, um das wir beharrlichst kämpften - all dessen, das aber nicht dem schlichten, klaren und geschriebenen Wort gemäß war, das uns die Bedeutung dieses Namens offenbart. Andernfalls sind Selbstbetrug und Eitelkeit die Folge, fruchtlos wie der Wind.

 

E.N.C.


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