2010-11-29

Zu Spät

Jerusalem liegt ohne Wolken,

nicht mal ein laues Lüftchen weht.

Ich fürchtete ihm nachzufolgen.

Ich hoffte, dass der Wind sich dreht.

Ich habe Zeit verschenkt.

„Wird er bereits gehängt?“

Ich lauf. Ich komm. Ich komm zu spät!

 

Die sonst so kahle Hügelkette

ist heute menschenübersät.

Er liegt schon auf der Schädelstätte

und schweigt - der Mann aus Nazareth.

Und jeder Hammerschlag

erschüttert mich ins Mark.

Er zuckt. Ich auch. Ich bin zu spät!

 

Ich höre es nur aus der Ferne -

aus sichrer Anonymität -

“Steig doch herab! Hat Gott dich gerne?”

wird er erbarmungslos geschmäht.

“Bist selber daran schuld!” -

er trägt es mit Geduld.

Man spuckt. Man flucht. Es ist zu spät!

 

 Was sagen da die Henkersknaben?

Sein Unterhemd sei nicht genäht?

“Bevor wir ihn darin begraben,

entwenden wir’s der Majestät.”

Schon würfeln sie darum -

der Mann am Kreuz bleibt stumm.

„Zwei fünf!“ - „Vier sechs!“ Es ist zu spät!

 

Die letzte Chance ist vergangen.

War er wahrhaftig der Prophet?

Wär’ ich doch früher mitgegangen -

und mit gehangen ... Doch, zu spät!

Nicht nur der Hohe Rat

beging an ihm Verrat,

denn auch wer sich enthält verrät!

 

Da fallen plötzlich lange Schatten,

als ob die Sonne untergeht.

Die eben noch zu spotten hatten,

packt plötzlich doch Nervosität.

Da! Finsternis setzt ein -

selbst Legionäre schrei’n.

Weiß Gott, was grade vor sich geht ...

 

Es dauert drei endlose Stunden.

Wie eingeschwärzt liegt der Planet.

“Mein Gott, mein Gott!” ruft er geschunden,

wie einer, der in Brand gerät.

Doch selbst der Himmel schweigt;

kein Engel, der sich zeigt,

als er in Schmerz und Schmach vergeht.

 

Mit dem am Kreuz geht es zu Ende.

Sein letztes Wort ist ein Gebet.

“Nimm meinen Geist in Deine Hände”

ist, was man noch davon versteht.

Dann neigt der still sein Haupt,

dem ich zu spät geglaubt.

Er stirbt. Verzeih! Ich bin zu spät!

 

Wer ist der ungeliebte Tote,

der so geschmäht nicht wieder schmäht,

der leidend schwieg, bespuckt nicht drohte.

Der den noch küsst, der ihn verrät?

Es trifft mich wie ein Schock:

Er ist der »Sündenbock«!

Er erntet das, was ich gesät.

 

 Mein bisher insgeheimer Meister,

bespuckt - doch voller Majestät!

Wie siegreich übergab den Geist er.

Er ist das Lamm, das auf sich lädt,

die Schuld der ganzen Welt,

Versäumen, das mich quält!

Nun kommt mein letzter Dienst zu spät.

 

“Darf ich ihn ordentlich begraben?” -

Pilatus fehlt’s an Pietät:

“Der ist schon tot? Den kannst du haben,

weil jetzt kein Hahn mehr nach ihm kräht!”

Auch Nikodemus reut’s.

Wir nehmen ihn vom Kreuz.

Zu scheu, zu leise, zu diskret.

 

Er sinkt entstellt in meine Arme,

wie ein erloschener Komet.

Er ist schon kalt! O Gott erbarme

dich über mich! Ich kam zu spät!

Dann tragen wir ihn fort

und wechseln nicht ein Wort.

Verflucht sei die Kalamität!

 

Der Abend kommt und alles hastet

zum Passah, das man heute brät.

Hab den »Verfluchten« angetastet

und bin nun unrein - und zu spät!

“Sieh, Gottes Passah-Lamm!”

Ich komme um vor Scham.

Zahlt er sogar für mein »Zuspät«?

 

“Im Tod sei er bei einem Reichen”,

so sagt Jesaja, der Prophet. Nein,

diese Chance darf nicht verstreichen,

dass dies Wort in Erfüllung geht!

O, legt ihn bitte in mein Grab,

weil er an meiner Stelle starb!

Für Liebe ist es nie zu spät.

A.F.


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