Die sieben Worte (1)
Ihr werdet euch der Worte des hochbetagten Simeon erinnern, als er das Kind Jesus in seine Arme nahm. Er sprach: „Siehe, dieser ist gesetzt zum Fall und Aufstehen vieler in Israel …, damit Überlegungen aus vielen Herzen offenbar werden.“ In dem Kreuz Christi erfolgt die Prüfung, darin werden die Gedanken aller Herzen offengelegt; doch vor allem wurden dort Seine Gedanken, Seine tiefen Gefühle offenbar. Diese erfahren wir in den sieben Worten, die aus Seinem Munde kamen.
Wir wollen nun an den Herrn Jesus denken, wie Er da an einem Kreuz hing, das für Verbrecher bestimmt war. Welch eine Stätte für den Herrn der Herrlichkeit! Was für ein Ort für den Fürst des Lebens! Und doch befand Er sich genau dort, dafür war Er vom Vater gekommen, dafür hatte Er Seinen Thron in der Herrlichkeit verlassen und war in diese Welt gekommen. Wenn man jedoch Sein Leben unter den Menschen betrachtet, hätte man durchaus etwas anderes erwarten können. Er tat hinfort Gutes, Er war Diener ihrer Nöte, Sein Herz war stets von Mitgefühl für ihre Sorgen ergriffen; Er heilte sie, Er segnete ihre Kinder, Er weinte um sie. Gewiss gebührten Ihm allgemeiner Beifall, ein unumstrittener Thronanspruch und die Krone der Zuneigung Seines Volkes, doch stattdessen wurde Er mit Dornen gekrönt, bespuckt, geschlagen, verspottet, verflucht und ans Kreuz genagelt.
Seht nur die Menschenmenge dort, wie sie laut rufen und drängeln, für sie ist die Kreuzigung des Nazareners ein Volksfest. Sie haben Ihn der Schande und den schlimmsten Leiden überlassen, die sich ihr von der Hölle angespornter Hass nur ersinnen konnte, doch damit sind sie nicht zufrieden. Sie scharen sich um Ihn und verspotten Ihn in Seinen Schmerzen, sie machen sich über Seine vermeintliche Schwachheit lustig. „Sich selbst kann Er nicht retten“, so rufen sie. „Steige herab vom Kreuz, damit wir glauben.“ Eine Welle des Hasses nach der anderen brach über Ihn herein, in jener schrecklichen Stunde wurden die Herzen der Menschen bis ins Innerste bloßgestellt, doch dann sprach Er. Über den Lärm des Ansturms hinweg erhebt sich Seine Stimme im Gebet zu Seinem Vater: „Vater“, ruft Er, „vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Dies war Seine Antwort, der Triumph göttlicher Liebe über menschlichen Hass.
Er hätte etwas anderes beten können. Er hätte seinen Vater um zwölf Legionen Engel bitten können und sie hätten zwischen Ihm und dem teuflischen Lager der Menschen gestanden, doch das tat Er nicht. Wenn Er das getan hätte, hätte das die Verdammung für diese Menge bedeutet, genauso wie für mich und für dich. Er kam, um zu retten, nicht um zu verdammen. Er sah auf diese Menschenmenge herab und darüber hinaus sah Er all die Generationen, die noch folgen würden, und Er bat um Vergebung für sie und aufgrund dieses Gebetes wird in Seinem Namen Buße und Vergebung der Sünden zu allen Nationen gepredigt.
Sein erstes Wort drückte Seinen Willen für die Welt der Sünder aus, das zweite Wort zeigt Seinen Willen für jeden einzelnen Sünder, der sich Ihm anvertraut. Wir wissen nicht, was den Verbrecher an Seiner Seite dorthin gebracht hatte, aber der Geist Gottes öffnete seine Augen, um zu sehen, und sein Herz, um zu glauben, und seinen Mund, um zu bekennen, dass er sein Gericht verdiente. Aber darüber hinaus bekannte er die Wahrheit im Bezug auf die Person des Herrn. Seine Augen sahen die Finsternis umher und sahen die Herrlichkeit des kommenden Königreiches. „Gedenke meiner“, sagte er, „Herr, wenn du in deinem Reich kommst.“ Er beanspruchte die Aufmerksamkeit des Herrn, als ob er und der Herr allein in diesem Moment existiert hätten. Aber war das nicht anmaßend? Nein, es war Glaube - Glaube, der sofort von der Gnade des Herrn beantwortet wurde. „Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein.“ Und an wen richtete sich dieses „dir“? An einen schmutzigen Räuber, ungeeignet, auf dieser Erde zu leben. Wie konnte der ins Paradies kommen? Eins ist sicher, wenn der Herr sagte: „Du wirst mit mir im Paradies sein“, dann machte ihn das passend. „Das Blut Jesu [Christi], seines Sohnes, reinigt uns von aller Sünde.“
An diesem Tag gab es keine zwei Menschen auf der Erde, die ihn [Christus] mehr geliebt hätten als seine Mutter und Johannes, und da standen sie zusammen unter dem Kreuz. Seine Leiden und ihre Liebe zu Ihm hatte sie dorthin gebracht. Und Jesus sagte zu Maria: „Frau, siehe dein Sohn“, und zu Johannes: „Siehe, deine Mutter.“ Das sollte sicherlich heißen: „Ihr habt mich lieb, so habt euch auch gegenseitig lieb.“ Und dieser Jünger nahm sie an jenem Tag mit nach Hause und dort wohnten sie dann in Einigkeit und Liebe. In diesem dritten Wort drückte Er Seinen Willen für alle aus, die Ihn lieben, und sollte das unsere Herzen nicht zutiefst berühren? Er hat uns gesagt: „Liebt einander, so wie ich euch geliebt habe“, und in dem gleichen Evangelium lesen wir auch, dass Er gestorben ist, um die verstreuten Kinder Gottes in eins zu versammeln. Können wir an das Kreuz denken und uns dann streiten? Können wir eines seiner geliebten Kinder mit Gleichgültigkeit behandeln, wenn wir unter Seinem Kreuz stehen? Sein Tod ist die Offenbarung Seiner Liebe zu jedem einzelnen Seiner Kinder, und sollten wir sie nicht genauso lieben? Diese ausgestreckten Arme umfassen die gesamte Familie Gottes, und zu uns sagt Er: „Siehe da, meine Mutter und meine Brüder!“
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