Das Gebet im Verborgenen
Ins Kämmerlein gehen und die Tür hinter sich abschließen, um im Verborgenen zu beten, das ist es, was so not tut.
Hier liegt die Kraftquelle geistlichen Lebens. Und dennoch entschuldigen wir uns, wir könnten keine Zeit dazu finden. Aber wenn wir keine Zeit finden für den Herrn im Kämmerlein, so liegt Ihm auch nichts daran, ob wir zum öffentlichen Dienst Zeit finden oder nicht. Ist es aber nicht so, daß wir für nahezu alles Zeit finden können, nur nicht dazu, in unser Kämmerlein zu gehen und die Tür hinter uns zuzuschließen, um mit Gott allein zu sein? Wir finden Zeit, mit unseren Geschwistern zu reden, und dabei vergehen, ohne daß wir es merken, Minuten, die zu Stunden werden, und das wird uns keine Last. Fühlen wir aber, wir sollten uns eine Zeitlang in unser Kämmerlein zurückziehen, um mit Gott allein zu sein, so stellen sich dem allerhand Schwierigkeiten in den Weg. Zehntausende von Feinden erheben sich, uns von der geheiligten Stätte fernzuhalten, die „dein Kämmerlein" genannt wird.
Es scheint Satan nicht darauf anzukommen, wie er uns beschäftigt, wenn er dadurch nur verhindert, daß wir unseres Vaters Angesicht suchen. Der große Versucher weiß nur zu gut, daß er uns in seiner Gewalt hat, wenn es ihm gelingt, unseren Verkehr mit Gott zu unterbinden. Ja, wir können Zeit für alles finden, nur nicht dazu, uns hinwegzustehlen, um mit Gott im Gebet zu ringen. Wir mögen sogar Zeit dazu finden, das Evangelium zu predigen und den Heiligen zu dienen, unsere Seelen aber sind dabei dürr und saftlos aus Mangel an verborgenem Gebet und Verkehr mit Gott!
O welch einer Verschlagenheit ist diese Adamsnatur fähig! Wenn wir in unser Kämmerlein gehen und die Tür hinter uns zuschließen, sieht und hört uns niemand als Gott allein das ist nicht der Ort, wo wir einen guten Eindruck auf andere machen können, niemand ist zugegen, unseren Eifer für den Herrn zu sehen. Da ist niemand als Gott allein, und wir wissen nur zu gut, daß wir nicht wagen dürfen, IHN glauben zu machen, daß wir etwas anderes sind, als was wir wirklich sind. Wir fühlen, daß Er uns sieht und durchschaut und unsere Herzen völlig erkennt. Wenn sich Böses in uns versteckt hält, so fühlen wir unwillkürlich, wie Gott uns erforscht; denn vor Ihm kann das Böse nicht bestehen. O welch eine herzerforschende Stätte ist es doch, allein in der Gegenwart Gottes zu sein!
Es ist daher kein Wunder, daß sich so viele entschuldigen, wenn sie dort nicht viel Zeit zubringen. Aber, Geliebte, dieser Mangel an Zeit für das verborgene Gebet im Kämmerlein ist die Ursache dafür, daß vielfach so wenig Lebenskraft zu sehen ist und die Fleischlichkeit die Oberhand hat. Das muß anders werden. Wollen wir nicht für einen gründlichen Wandel in den Gewohnheiten des Volkes Gottes beten? In solchem Gebet kann uns niemand vertreten; ein anderer kann es ebensowenig für uns tun, als unser Leib dadurch gedeihen kann, daß jemand anders an unserer Statt die Nahrung zu sich nimmt. Jeder einzelne muß im Kämmerlein ringen; die Gebetsstunde genügt nicht hierzu, und sie ist gewiß ein gesegnetes Vorrecht.
Wieviele mag es geben, die das verborgene Gebet allmählich aufgegeben haben, bis ihre Gemeinschaft mit Gott so völlig unterbrochen ist, als ob es für sie überhaupt keinen Gott mehr gäbe. Das ist kein bloßes Gerede; jeder, der ein wenig unter den Heiligen herumkommt, wird das aus Erfahrung kennen. Daß Gott Seine Beter hat, glauben wir ja, wir freuen uns, es zu wissen. Er ist nie ohne Treue gewesen, die Tag und Nacht zu Ihm schreien, wenn sie auch nur einen Ueberrest ausmachen. Doch die schreckliche, abwärts gehende Strömung dieser letzten Tage reißt viele mit sich fort, ja sogar viele vom Volke Gottes; und der große Feind der Seelen konnte auf keine tödlicher wirkende List verfallen, um die Heiligen zu verkaufen, als die, daß er sie um die Unterstützung des Thrones der Gnade brachte. Wenn das Gebet im Kämmerlein matt wird, so ist "das Haupt krank und das Herz siech" (Jes 1,5).
Der Mangel an verborgenem Gebet verrät ein recht geringes Verlangen nach himmlischer Speise. Wem das Kämmerlein fremd wird, der wird eine leichte Beute der Versuchung; bei jeder Gelegenheit erringt Satan einen Vorteil über ihn. Nichts geht seinen rechten Gang, alles ist einem dann entgegen, denn der Pfad, der eine Seele von Gott wegführt, ist dornig. Wenn ein Bruder ein oder zweimal nicht in der Gebetsversammlung ist, so kann man mit ihm darüber reden und ihn ermahnen, weil seine Abwesenheit auffällt. Sein Fehlen im Kämmerlein aber entzieht sich deiner Beobachtung, dann fühlst du nur, wenn du mit ihm in Berührung kommst, daß etwas sein geistliches Leben untergräbt. Wer aber wird den ewigen Verlust ermessen, den die Vernachlässigung des verborgenen Gebets mit sich bringt?
Wie ganz anders steht es mit denen, die eifrig darüber wachen, daß der Herr immer Sein Teil bekommt. Ihr Ein und Ausgehen, ihr ganzes Leben beweist, daß sie dort waren, wo der himmlische Tau fiel. Ihr Vater, der es im Verborgenen sah, lohnt es ihnen öffentlich. Wohin sie kommen, bringen sie, obschon sie sich dessen nicht bewußt sind, die Ruhe jener verborgenen Stätte mit sich, wo sie Gott allezeit danken und mit Ihm wie mit einem Freunde reden. Man spürt bei solchen etwas Einzigartiges, und es steht zu befürchten, daß es nur wenige ihrer Art gibt, wenige gegenüber den vielen, die dahineilen und denen das Kämmerlein und die Stunde mit Gott allein fremd sind. So ist es denn kein Wunder, daß Heilige so weltlich werden, wie es nur ein Weltmensch sein kann. Und auch das ist kein Wunder, wenn es vergebliche Mühe zu sein scheint, ihnen die einfachsten Vorschriften des Wortes Gottes ans Herz zu legen.
Doch "das Geheimnis Jehovas ist für die, die ihn fürchten" (Ps 25,14). Abraham, der in trauter Gemeinschaft mit Gott war, kannte das Schicksal Sodoms, lange bevor die Einwohner dieser Stadt auch nur im Traum an eine Gefahr dachten. Und derselbe Abraham war es auch, der sich beeilte und frühmorgens aufstand, um nach dem Befehl Jehovas Isaak zu opfern, obschon dadurch seine innigsten natürlichen Bande zerrissen werden. Männer der Gemeinschaft waren Männer des Gehorsams. Und Männer des Gebets sind es gewesen, die zu aller Zeit den Arm der Allmacht Gottes zum Eingreifen bewegten.
Gottesmänner, die dem Anschein nach es am wenigsten nötig hatten, für sich selbst zu beten, gerade ihnen war das einsame Kämmerlein am teuersten. Und unser größtes Vorbild, der Herr Jesus selbst, war ein Mann des Gebets. Wir lesen von Ihm, daß Er lange vor Tagesanbruch aufstand und an einen stillen Ort ging, um zu beten. Laßt uns Ihm folgen, wohin immer Er geht. Wenn Er des Beistandes der himmlischen Macht bedurfte, Ihn in der Stunde der Drangsal zu stärken, wieviel mehr wir! In dieser überaus wichtigen Sache sollte keine Unklarheit herrschen.
Lasst uns den Kindern Gottes gegenüber auf das Gebet im Verborgenen dringen, denn es ist ein Haupterfordernis des geistlichen Lebens! Der Vater sieht ins Verborgene und wird öffentlich vergelten. Nutzlos und fruchtleer bleibt der größte Dienst, wenn er nicht im verborgenen Gebet seinen Ausgang und seine Quelle hat. Möchte sich jeder von uns die Frage stellen: Liebe ich die verborgene Stätte, um da mit dem Herrn zu reden, meine Kraft zu erneuern, mit Gott zu ringen und obzusiegen?
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