2018-05-20

Die Nacht der Tränen

In jener denkwürdigen Nacht, als Israel zum ersten Mal das Passah feierte, entstand „ein großes Geschrei im ganzen Land Ägypten, desgleichen nie gewesen ist und desgleichen nicht mehr sein wird“ (2. Mo. 11,6; vgl. 12,30).

Die Wohnhäuser der Großen und die Hütten der Armen waren gleichermaßen erfüllt vom Schluchzen und Stöhnen derer, die einen so schmerzlichen Verlust erlitten hatten. Alle Familien dieses großen Reiches trauerten gemeinsam über ihre erstgeborenen Söhne, die ihnen durch einen einzigen Schlag genommen wurden. Erleichterung konnten sie in ihrem Schmerz nicht finden. Weinen und Klagen erfüllte diese Nacht des Gerichts. Der Name Bochim („Weinende“;??Ri. 2,5) kann gut auf das Land Ägypten angewandt werden, denn um Mitternacht verwandelte sich dieses stolze Königreich plötzlich in eine Nation von Weinenden.

Das war die Folge davon, dass der Pharao in seinem Hochmut gegen Gott gekämpft und Seinem Willen widerstanden hatte. Unbeirrt hatte der Machthaber dem Allmächtigen getrotzt: „Nicht dein Wille, sondern der meine geschehe.“ Dreist verweigerte er, dass Israel - der Erstgeborene Gottes - aus der Knechtschaft frei werden sollte, obwohl er die schreckliche Alternative für die Erstgeborenen Ägyptens genau kannte. So wurde durch den hartnäckigen Eigenwillen des Menschen die Hoffnung einer mächtigen Nation in dieser Nacht der Tränen ausgelöscht.

Verlassen wir Ägypten mit seinen geschlagenen Häusern und wenden wir uns Gethsemane und dem Mann der Schmerzen zu! Dort erscheint eine andere nächtliche Szene vor uns: Unser Herr „schreit“ in ringendem Kampf, als Sein Schweiß „wie große Blutstropfen“ wurde.

Es sind hier nicht Tausende von traurigen Stimmen, die sich den Anwohnern des Nils inmitten der architektonischen Schönheiten Ägyptens entringen. Wir vernehmen vielmehr - in einem ruhigen Garten außerhalb der Stadt - nur eine einzelne Stimme. Sie bebt, denn die innere Not ist groß. Mit starkem Schreien und Tränen (vgl.??Heb. 5,7) wird das Gebet der Gebete gesprochen: „Vater, wenn du willst, so nimm diesen Kelch von mir weg - doch nicht mein Wille, sondern der deine geschehe!“ (Lk. 22,42).

Was für eine Nacht der Tränen war das! In dem einsamen Garten Gethsemane wurde unser Herr und Heiland beängstigt und sehr betrübt bis zum Tode. Dort fiel Er auf Sein Angesicht, wissend, was der nächste Morgen Ihm bringen würde. Dort wurde Sein Schweiß wie große Blutstropfen, die auf die Erde herabfielen. Dreimal rief der vollkommene Mensch und heilige Sohn Gottes laut in dieser Nacht zu Seinem Vater: „Nimm diesen Kelch von mir weg! Doch nicht, was ich will, sondern was du willst!“ (Mk. 14,36).

Einen Steinwurf entfernt schliefen die Jünger. Doch wir wollen nicht schlafen. Wir wollen eine Stunde mit ihm wachen. Wollen Gemeinschaft mit Ihm in Seinen tiefen Leiden haben, wollen an den schrecklichen Kelch - der bis zum Rand mit dem Zorn Gottes über unsere Sünden gefüllt war - denken, den Er dann am Kreuz von Golgatha ausgetrunken hat.

In der Nacht der Tränen in Gethsemane hören wir Schreie. Es sind nicht solche, die von Ungehorsamen und Rebellischen stammen, die wegen ihrer Sünden geschlagen wurden, wie das in Ägypten der Fall war. Nein, es ist der Ausdruck der Pein des gehorsamen Menschen, der in Seiner eigenen Allwissenheit das Kreuz und den Tod vor Augen sieht.

Sein starker Schrei und die Tränen galten dem, der Ihn aus dem Tod zu erretten vermochte. Obwohl der Kelch nicht von Ihm wich, ehe Er Ihn getrunken hatte, wurde die dringende Bitte des Sohnes wegen Seiner Frömmigkeit erhört: Am dritten Tag wurde Er durch die Herrlichkeit des Vaters aus den Toten auferweckt.

Nach den Leiden kommt die Freude. „Am Abend kehrt Weinen ein, und am Morgen ist Jubel da“ (Ps. 30,5). Die Nacht in Gethsemane und die drei Stunden jener Finsternis, die an Dunkelheit die Nacht noch übertraf, wurden abgelöst durch einen Morgen ohne Wolken - den Morgen der Auferstehung und der himmlischen Herrlichkeit.

Hier sind Dunkelheit und Tränen; dort wird der Tod nicht mehr sein, noch Trauer, noch Geschrei, noch Schmerz (Off 21,4). - Für uns kann das nur deshalb Wirklichkeit werden, weil der Herr Jesus bereit war, diese Leiden auf sich zu nehmen!

W.J.H.


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