Wenn es nötig ist
Es wird heute viel geredet und geschrieben über die Größe und den Ernst unserer Zeit. Mit Recht, denn sie ist groß und ernst. Wer von uns hätte je daran gedacht, derartiges durchmachen zu müssen? Wie fühlte man sich so wohl auf Erden bei dem Gedanken, die Ruhe werde nicht mehr ernstlich gestört werden, der Herr Jesus werde vor dem Eintreten größerer Umwälzungen kommen und uns in Sicherheit bringen.
Wohl erkannte man, dass die politischen Zustände einer gewaltigen Entscheidung zudrängten, dass etwas Besonderes kommen müsse, aber man meinte vielfach, das von dem Standpunkt des Unbeteiligten aus betrachten zu dürfen. Wie sehr hat man sich getäuscht! Wie ernst war das Erwachen!
Der Mensch sagt allerdings, dass dieses Furchtbare mit mathematischer Sicherheit habe kommen müssen. Wir wissen aber, dass der Höchste, der über alle Könige der Erde Macht hat, es bis nach der Aufnahme der Braut hätte zurückhalten können. Auch jetzt noch kann der Herr kommen, bevor der Krieg zu Ende geht. Und wer von uns möchte nicht von Herzen wünschen, dass Er heute noch käme?
Vielleicht aber will der Herr, dass wir den Krieg durchleben; und so schwer die Tage heute schon sein mögen, noch schwerere stehen dann in Aussicht. Da mögen wir uns wohl an ein Wort in 1. Petr. 1,6 erinnern, wo wir lesen: „...die ihr jetzt eine kleine Zeit, wenn es nötig ist, betrübt seid durch mancherlei Versuchungen“.
„Eine kleine Zeit betrübt“ - ja, Gott sei Dank! Im Vergleich mit der vor uns liegenden Ewigkeit währt die Prüfung nur eine kurze Zeitspanne, und Gott selbst misst sie ab nach Seiner Weisheit und Barmherzigkeit. Und wann sendet Er sie? „Wenn es nötig ist!“
Verstehen wir, was das heißt? Die züchtigende Hand Gottes ruht auf der Erde, auf den Völkern um uns her, auf dem deutschen Volk, auf uns, Seinen Kindern. Und wenn Er züchtigt, so ist dadurch der Beweis erbracht, dass es notwendig ist. Es bedarf keines anderen Beweises. Und in der Tat, wohin ist die Christenheit gekommen! In welch ernsten, sittlichen Verfall war unser Volk und Land geraten! Ja, wo standen wir, die wir zur Verherrlichung Gottes hier auf der Erde bestimmt sind!
Was wollen wir nun tun, wenn wir unseren Gott und Vater sagen hören, dass Er uns nur dann durch Trübsale führt, wenn’s nötig ist? Wir wollen uns vor Ihm beugen, in Anerkennung der Notwendigkeit unserer Züchtigung, erschreckend darüber, dass eine solch große Trübsal für uns nötig war. Wie schlimm muss es um uns gestanden haben, wie sehr muss der Geist dieser Welt und das Verderben von Laodicäa in unsere Reihen eingedrungen sein!
O, wie müssen wir unseren Heiland, der einst für uns Sein Leben darlegte, betrübt und Seinen heiligen Namen verunehrt haben! Lasst uns alle von Herzen rufen: „Herr, gibt mir mehr Licht über mich, über meinen Wandel, über meine Gesinnung, über die Beweggründe meines gesamten Handelns! Vertiefe in mir die wahre Erkenntnis des Bösen und deiner Heiligkeit!“
Wir Gotteskinder erleben ohne Frage die gegenwärtige Drangsal zu unserer Beschämung, zu unserer Demütigung, zur notwendigen Heilung. Schon lange hatten ernste Christen um Wiederbelebung der Gemeinde Christi zum Herrn gerufen. Sie seufzten unter dem gewaltigen, überall zutage tretenden Niedergang in der Verwirklichung all des Heiligen und Kostbaren, das den Gläubigen geschenkt ist, aber leider vielfach nur mit dem Verstand erfasst wurde. Sie flehten um Heilung von Selbstsucht und Oberflächlichkeit, um Vertiefung der Gottesfurcht in den Herzen. Aber es war, wie wenn alles Rufen ungehört verhalle. Man wartet auf Antwort, und es kam keine.
Wohl griff Gott in das Leben Einzelner in ernster Weise ein, um das Herz durch Sturm und Drang in die praktische Lebensgemeinschaft mit Ihm zurückzuführen. Aber selbst so waren Seine Bemühungen oft umsonst. Und wie es an dem einen Orte stand, so war es fast überall. Weltsinn und Mangel an Ernst und Treue machten sich breit auf allen Seiten! Manche erleuchtete Christen wollten schier alle Hoffnung aufgeben.
Da erschien der Herr mit gewaltigem Zuruf auf dem Schauplatz. Alle vernehmen heute Seine Stimme. Er ist gekommen, um auf das Rufen der Seinen zu antworten, um durch die gegenwärtigen Stürme Demütigung, Beugung, Umkehr und Heilung, eine allgemeine Belebung Seiner Gemeinde zu schenken. Zur Erhörung des vielen Flehens war diese große, schwere Züchtigung nötig. Deshalb lasst uns Ihm dafür danken, so schwer und schmerzlich dieser Weg ist! Er lässt uns nicht, lässt auch nichts unversucht, um uns zu dienen, zu helfen und uns zu fördern. Welch eine Gnade, dass wir in dem Sturmeswehen Seine Stimme vernehmen dürfen!
Wir wollen darum, trotz allem, auch nicht verzagen, sondern alles in die guten und treuen Hände Dessen legen, der diesen furchtbarsten aller bisherigen Kriege notwendig senden musste. Vielleicht ist er auch der einzige Weg, der noch übrig war, um vielen Menschen zum Heil ihrer Seele nahezukommen. Wer könnte die Tränen und Seufzer um all die verlorenen Söhne und Töchter zählen, die schon zum Gnadenthron emporgestiegen sind! Wer kennt all die furchtbaren Ketten, mit denen Satan sie gebunden hielt, Ketten, die in den gegenwärtigen letzten Zeiten wohl schrecklicher und gefährlicher sind, als je zuvor? Vielleicht hatte Gott schon an vielen Herzen alles versucht, und als letztes Gnadenmittel blieb nur noch dieser Krieg übrig. Wie herrlich, dass auch dieser Spruch, „wenn es nötig ist“, zwei Seiten hat: die eine Seite Licht, die andere Liebe.
Gott redet in dieser ernsten Zeit aber nicht nur zur Allgemeinheit, sondern ganz besonders zu jedem Einzelnen. Mein lieber gläubiger Leser! Hast du dich deshalb schon gefragt: „Herr, was hast du mir zu sagen?“ Hast du dein Leben im Lichte der Ewigkeit beurteilt? Sind in deinem Herzen jetzt wirklich gebahnte Wege? Hast du gebrochen, völlig gebrochen mit schlechten Angewohnheiten, unreinen Neigungen und dergleichen? Hast du den „alten Sauerteig“ gründlich ausgefegt? Wenn nicht, so war für dich dieser Krieg ganz besonders nötig. Und wenn Leben aus Gott in dir ist, dann musst du fühlen, dass Beugung und Demütigung sich für dich geziemen. O welch kostbare Frucht würde aus dieser Tränensaat aufgehen, wenn alle Gläubigen den ihnen gebührenden Platz vor Gott einnehmen würden, und zwar jeder persönlich!
Wie nötig die Trübsal war, darüber herrscht unter einsichtsvollen Christen nur eine Stimme. Ein bejahrter Diener des Herrn schreibt: „Der Herr ist am Werk, um uns alle vor der Gefahr toten Wissens zu bewahren und uns demütig zu machen, damit wir das Tun, das Ausleben und Verwirklichen des Wortes lernen. Er will die Gefahr beseitigen, dass man vielfach die biblische Heiligung missachtet aus Furcht vor einer unbiblischen Heiligung des Fleisches. Um diese Gefahr zu überwinden, bedarf es einer tiefgreifenden Wandlung bei manchen Geschwistern.“
Ein anderer drückt sich folgendermaßen aus: „Gott redet durch diesen schrecklichen Krieg ernst und eindringlich zu allen, besonders zu uns Gläubigen. Er konnte nicht anders. Mit banger Sorge blickten die Gottesfürchtigen in die Zukunft angesichts des Verfalls um sie her. Ach! es liegen Tage hinter uns, in denen nicht nur die breiten Schichten des Volkes ihre Ohren von der Wahrheit ab- und zu den Fabeln hingewendet haben, sondern auch solche, die da bekennen, dass Salz der Erde zu sein.
Die Wahrheit von unserer himmlischen Berufung und unserer Stellung in Christo hatte bei manchen ihren Wert verloren, und das Forschen im Worte Gottes hatte bedenklich nachgelassen. Anstatt das Buch des Lebens studierte man Zeitungen und nährte sein inneres Leben mit wertlosen Geschichten etc. Von der abscheulichen Mode der Frauenwelt gar nicht zu reden, die auch unter den Schwestern Aufnahme gefunden hat. Was hilft es zu sagen: „Wir haben die Wahrheit“, oder: „Hier ist die Wahrheit“, wenn Gottesfurcht und Demut fehlen?
„Darf man sich da wundern, wenn Gott Seine Hand zum Schlage erhoben hat? Der Herr erwartet von den Seinigen die tiefste Beugung. „Wem viel gegeben ist, viel wird von ihm gefordert werden.“ (Lukas 12,48). Er hat Seinen Arm nicht erhoben zum Verderben, sondern zur Reinigung und Wiederherstellung.“
Ein Dritter klagt: „Wie war die Bruderliebe aus unserer Mitte so vielfach verschwunden! Wie wenig hat man sich umeinander bekümmert! Wie schwach war die Fürbitte füreinander, wie arm und kraftlos waren oft die Gebetsversammlungen!"
„Wie wenig haben wir einander geholfen mit den zeitlichen und geistlichen Gaben, die der Herr uns geschenkt hatte! Wie wenig Anreizung zur Liebe und zu guten Werken war da! Wie wurde von vielen das Zusammenkommen versäumt, wie wenig die persönliche Gemeinschaft mit dem Herrn gepflegt! Ja, wie hing diese Seele am Geld, jene an schöner Kleidung, diese am Haushalt, jene am Geschäft! Die irdischen Dinge nahmen uns viel mehr in Anspruch, als gut war. Wir dachten, urteilten und handelten wie die Welt. Unzufrieden und oft selbst undankbar für Essen und Trinken, Kleidung, Obdach, Arbeit, Gesundheit, nahmen wir so viele herrliche Gottesgaben als selbstverständlich hin!"
Wir können zu dem allen nur Ja und Amen sagen und müssen hinzufügen: Zu was allem die heutigen Zeiten der Trübsal notwendig sind, das entzieht sich noch zum großen Teil unserer Beurteilung. Und wie sehr sie nötig waren, das werden wir erst in der Zeit aller Rätsellösung und Fragenbeantwortung verstehen. Aber als Kinder Gottes müssten wir schon heute den Druck des Fingers Gottes auf so mancher Wunde fühlen. Wir können wohl mit der Witwe zu Zarpath in 1. Könige 17 sagen: „Du bist zu mir gekommen, um meine Ungerechtigkeit ins Gedächtnis zu bringen“.
Wohl uns, wenn wir den Grund der ernsten Heimsuchung Gottes erkennen und uns von Herzen demütigen! Wir haben viel Licht über die Gedanken und Ratschlüsse Gottes. Aber wie stand unser Herz, unser praktisches Leben dazu? Wie war und ist unser Verhalten in der Familie? Wie den Nachbarn gegenüber? Nach welchen Grundsätzen wurden unsere Geschäfte geführt? Wie standen wir den Arbeitskollegen gegenüber? Lauter wichtige Fragen!
Mussten die Kinder der Welt, die mit uns in Berührung kamen, aus unserem Verhalten, aus den in die Erscheinung tretenden Grundsätzen den Schluss ziehen, dass wir Jünger oder Jüngerinnen des Herrn Jesus sind, die nicht an sich denken, sondern das Wohl der anderen Menschen und die Verherrlichung des Vaters erstreben? Wie traurig ist es, wenn man von einem Christen sagen hört: „Das ist ein kluger Mensch! Der weiß ganz genau was er tut, und versteht auf alle Weise seinen Vorteil zu wahren! Wir erfreuen uns einer herrlichen, himmlischen Berufung und wollen Nachfolger des verachteten Nazaräers sein; aber wie haben wir uns verhalten! O, es ist sehr, sehr ernst - Gott musste uns schlagen, musste notwendig die gegenwärtigen Trübsale senden.
Wenn wir schließlich auf die Zersplitterung unter den wahren Christen sehen, auf die Uneinigkeit und vielfache gegenseitige Befehdung, so müssen wir wieder mit Beschämung zugestehen: Auch wegen dieser Dinge war die Trübsal nötig. Wollen wir andere verurteilen? Nein, wir wollen an uns denken und zum Herrn um Gnade flehen, auf dass wir unsere Fehler recht erkennen. Vielleicht nehmen wir in dem einen oder anderen Punkt nicht die richtige Stellung unseren Geschwistern gegenüber ein, vielleicht haben wir nach Gottes Urteil viel mehr gefehlt, als wir im Allgemeinen denken. Möchte der Herr in Gnaden Augen öffnen, wo und wie es nötig ist! Lasst uns Seine Stimme auch in diesem Stück erkennen!
Der Apostel Johannes gibt am Schluss seines ersten Briefs den Gläubigen ein Wort mit auf den Weg, ruft es gewissermaßen laut hinter ihnen her, auf dass sie es ja nicht vergessen möchten, und das ist: „Kinder, hütet euch vor den Götzen!“ Ich glaube, wir wissen gar nicht, wieviel wir uns vor ihnen nicht gehütet haben. Wer könnte all die Hausgötzen, die zum großen Teil verborgen sind und von anderen nicht oder nur wenig gesehen werden aufzählen? Wir haben schon oben einige genannt: Geld und Gut, Haus und Hof, Geschäft, gemächliches Leben, Eigenwille, Hochmut, Selbstgefälligkeit, Ehre vor den Menschen usw. usw. Immer ist es etwas, das dem eigenen Ich zugute kommt; deshalb ist wohl das eigene Ich der vornehmste Hausgötze. Was sollen wir dem gegenüber tun? Was Jakob in 1. Mose 35, 2 tat. Er rief seinem ganzen Hause zu: „Tut die fremden Götter hinweg, die in eurer Mitte sind, und reinigt euch, und wechselt eure Kleider!“
Aus Botschafter 1915
Vorheriger Artikel Nächster Artikel