Bereit für das Kommen des Herrn?
„Und ihr, seid Menschen gleich, die auf ihren Herrn warten“ (Lk 12,36).
Das, was die Gläubigen charakterisieren sollte, ist nicht, bloß an der Lehre von der Ankunft des Herrn festzuhalten, sondern täglich auf Ihn zu warten. Ihre Seelen sollten sich in dem Zustande steter Erwartung befinden, der Erwartung, Ihn zu sehen, bei Ihm und Ihm gleich zu sein. Und zwar nicht deshalb, weil diese Welt, die ihnen feindlich entgegentritt, im Begriff steht, gerichtet zu werden. Wir haben Gnade empfangen und warten auf Ihn, der uns errettet hat, um dann völlig zu erkennen, was Er in seiner köstlichen Person für uns ist. Das Gericht ist nicht der Gegenstand unserer Hoffnung und unserer Freude, wie dereinst für die Gläubigen, die sich während der Zeit der großen Drangsal auf der Erde befinden werden; denn „jeder Streich der verhängten Rute, die der HERR auf ihn herabfahren lässt, ergeht unter Tamburin- und Lautenspiel“ (Jes 30,32). Unser Teil ist vielmehr, einfältig auf Ihn zu warten.
Der ganze Wandel und Charakter eines Gläubigen hängt davon ab, ob er auf den Herrn wartet. Jeder sollte an uns erkennen können, dass wir nichts in dieser Welt zu tun haben, als hindurchzugehen, dass wir kein Teil in ihr besitzen, und dass wir uns bekehrt haben „von den Götzenbildern zu Gott, dem lebendigen und wahren Gott zu dienen und seinen Sohn aus den Himmeln zu erwarten“ (1Thes 1,9.10). Zu dieser Hoffnung waren die Thessalonicher bekehrt worden; da sie einer Welt angehörten, die Gottes Sohn verworfen hatte, so mussten sie sich von diesen Götzenbildern abwenden, um „dem lebendigen und wahren Gott zu dienen und seinen Sohn aus den Himmeln zu erwarten“.
Was ich allen meinen Lesern recht dringend ans Herz legen möchte, ist, persönlich auf den Herrn zu warten, nicht die Lehre von seiner Ankunft zu kennen, sondern wirklich täglich auf Ihn zu warten. Worin auch der Wille des Herrn bestehen mag - ich werde sicher wünschen, dass Er mich bei seiner Ankunft seinen Willen tuend finden möchte. Doch das ist nicht die wichtigste Frage; diese lautet vielmehr: Warte ich auf Ihn Tag für Tag?
In 1. Thessalonicher 2 wird die Hoffnung auf die Ankunft Christi mit dem Dienste in Verbindung gebracht: „Denn wer ist unsere Hoffnung, oder Freude, oder Krone des Ruhmes? Nicht auch ihr vor unserem Herrn Jesu bei seiner Ankunft?“ In jenem Augenblick wird Paulus den Lohn seines Dienstes für die Heiligen empfangen.
Dann in 1. Thessalonicher 3 wird die Hoffnung mit unserem Wandel verbunden, als ein Beweggrund zur Heiligkeit: „tadellos in Heiligkeit vor unserem Gott und Vater, bei der Ankunft unseres Herrn Jesu mit allen seinen Heiligen“.
In 1. Thessalonicher 4 endlich wird die Lehre der Hoffnung entfaltet und die Art und Weise, wie sie sich erfüllen wird, mitgeteilt: „Denn der Herr selbst wird mit gebietendem Zuruf, mit der Stimme eines Erzengels und mit der Posaune Gottes hernieder kommen vom Himmel, und die Toten in Christus werden zuerst auferstehen; danach werden wir, die Lebenden, die übrig bleiben, zugleich mit ihnen entrückt werden in Wolken dem Herrn entgegen in die Luft; und also werden wir allezeit bei dem Herrn sein.“ Wir sehen aus diesen Worten, wie gegenwärtig die Erwartung der Ankunft des Herrn in den Gläubigen war. Paulus sagt: „wir, die Lebenden, die übrig bleiben“. Warum „wir“? Weil er die Ankunft damals erwartete. Das war sein Charakter damals, der Charakter eines Menschen, der auf seinen Herrn wartet. Und verliert er diesen Charakter, weil er gestorben ist, bevor der Herr kam? Nein, durchaus nicht.
Obgleich Petrus eine Offenbarung empfangen hatte, dass er seine Hütte ablegen sollte, so wartete er doch täglich auf die Ankunft des Herrn. Dies war sein Charakter damals und wird es auch sein, wenn der Herr kommt; er wird nichts durch seinen Tod verlieren. „Und ihr seid Menschen gleich, die auf ihren Herrn warten!“
Die Apostel und die Gläubigen der damaligen Zeit warteten gleich Knechten, die an der Haustür stehen, damit sie, wenn ihr Herr klopft, sogleich bereit sind, ihm zu öffnen. Dies ist natürlich ein Bild, aber es findet sich darin die gegenwärtige Kraft der Erwartung ausgedrückt. Wodurch ist der Verfall und das Verderben so rasch in die Kirche eingedrungen? Weil sie angefangen hat zu sagen: „Mein Herr verzieht zu kommen“; aber: „Glückselig jene Knechte, die der Herr, wenn er kommt, wachend finden wird!“
„Es seien eure Lenden umgürtet und eure Lampen brennend.“ Bei der Tracht der damaligen Zeit war es nötig, die Gewänder aufzuschürzen und seine Lenden zu umgürten, um dienen zu können. So sollen auch wir unsere Gewänder nicht lose herabfallen, mit anderen Worten, unsere Gedanken, Gefühle und Zuneigungen nicht umherschweifen lassen, sondern stets zum Dienst bereit sein, mit wohl aufgeschürzten Kleidern und brennenden Lampen. Dies ist selbstverständlich kein Zustand der Ruhe; im Gegenteil ist es eine außerordentlich ermüdende Sache, eine lange finstere Nacht hindurch zu wachen. Aber in dem Geiste unseres Dienstes müssen Herz, Zuneigungen, Gedanken, Gefühle und Wünsche stets wohl umgürtet sein.
Es erfordert wirklich Anstrengung, dem Fleisch nie zu erlauben, seinen eigenen Weg zu gehen; es ist zuzeiten eine große Erleichterung, dies, wenn auch nur für einen Augenblick, zu tun; aber wenn es geschieht, werden wir sicher gleich den zehn Jungfrauen einschlafen. Denn so wie die Jungfrauen sich mit dem Öl in ihren Lampen zum Schlaf niederlegten, so können auch wir mit dem Heiligen Geist in unseren Herzen einschlummern. Doch glückselig alle Knechte, die der Herr wachend finden wird! Der Herr ruft uns gleichsam zu: Jetzt ist es an euch, umgürtet zu sein und in Liebe zu dienen und zu wachen; aber wenn ich wiederkomme, dann wird es an mir sein, mich zu umgürten und hinzutreten und euch zu bedienen (Lk 12,37). Ihr müsst inmitten des Bösen wohl umgürtet sein und wachen; aber wenn das Böse gerichtet und hinweggetan ist, dann mögt ihr ausruhen von eurer Arbeit.
Einmal angekommen im Hause des Vaters, könnt ihr euch niederlegen und der Ruhe pflegen. An jenem gesegneten Orte der Reinheit und Heiligkeit könnt ihr eure Kleider herabwallen, eure Zuneigungen, Gedanken und Gefühle frei ausströmen lassen, ohne befürchten zu müssen, sie zu besudeln.
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