2022-10-03

Das Versprechen des Vaters

„Ich will dich nicht versäumen und dich nicht verlassen“ (Heb 13,5)

Im Jahr 1989 wurde Armenien von einem schweren Erdbeben verwüstet. Viele, viele Opfer kamen gleichzeitig um.

Auch eine Grundschule wurde auf einen Schlag dem Erdboden gleichgemacht und völlig zerstört. Ein Vater, der seinen Sohn abholen sollte, kam zu dem Ort, wo die Schule gestanden hatte - jetzt nur noch ein großer Schutthaufen.

Heute Morgen hatte er seinen Sohn noch in die Klasse gebracht, nicht wissend, dass einige Stunden später der ganze Klassenraum nicht mehr existieren würde. Machtlos stand der Vater da und starrte auf das, was von der Schule übrig geblieben war. Die Rettungskräfte stellten schon bald ihre Suche ein. Hier gab es keine Hoffnung mehr. Es war absolut kein Lebenszeichen mehr zu erkennen. Das konnte niemand überlebt haben.

Aber der Vater ließ es damit nicht genug sein. Er hatte seinem Sohn nämlich ein Versprechen gegeben - zufällig heute Morgen noch. Er hatte ihm ins Ohr geflüstert: „Was auch geschieht - ich werde immer für dich da sein!“
Dieses Versprechen sprach er öfter aus, als Vater zum Sohn.

Mit diesen Worten, die in seinen Gedanken noch nachklangen, und entgegen aller Ratschläge der Umstehenden, begann dieser Vater, mit bloßen Händen im Schutt zu suchen. Viele sagten ihm, er sollte aufhören damit; er wüsste es doch besser. Aber er hörte nicht auf sie, denn er hatte seinem Kind doch ein Versprechen gegeben!

Die Stunden schlichen dahin und die Nacht brach an. Aber der Vater suchte unbeirrt weiter und rief immer den Namen seines Kindes. Aber keine Antwort. Es war herzzerreißend zu sehen, wie dieser Vater mit bloßen, blutenden Händen suchte, während er die scharfen Brocken einen nach dem anderen entfernte.

Aus den Stunden wurden Tage, und mittlerweile wirkte die Ausdauer des Vaters ansteckend. Er bekam Hilfe von  Umstehenden und von anderen Eltern. Auch er gab nicht auf und grub mit bloßen Händen immer weiter. Und immer wieder rief er seinen Sohn. Am dritten Tag entdeckte er zum ersten Mal ein Lebenszeichen: In der Ferne hörte er Kinderstimmen.

Alle hatten die Hoffnung schon aufgegeben, aber der Vater nicht. Er hielt beharrlich durch. Am dritten Tag fand er Leben. Am dritten Tag. Vollständig unter Schutt begraben, fand er die Grundschulklasse seines Sohnes, und - Wunder über Wunder! - alle waren am Leben. Endlich konnte der Vater seinen Sohn in die Arme schließen. Er fragte ihn. „Hattest du nicht große Angst?“ „Nein“, sagte der kleine Junge entschlossen. „Ich habe zu der ganzen Klasse gesagt, was du heute Morgen zu mir gesagt hast. Ich habe gesagt, dass sie keine Angst zu haben brauchen, dass du kommst und uns hier rausholst. Ich habe gesagt, mein Vater hat mich noch nie im Stich gelassen. Du hast es doch versprochen! Ich habe ihnen gesagt, dass du uns retten würdest.“

 

Unbekannt


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