Das Lamm lehrt dich tragen
„Er trug!“ lesen wir zu wiederholten Malen, und noch öfter sehen wir es. Unter diesem Tragen meinen wir hier nicht den Moment, wo er als das Opferlamm die Sünde der Welt auf sich nahm und sie am Kreuz trug, sondern überhaupt seine Tragkraft, wie er sie bewies in seinem täglichen Leben.
Nach seinem Selbstzeugnis bestand seine Macht darin, dass er sein Leben lassen konnte (Joh 10,17); nicht darin, dass er redete, wie kein anderer Mensch geredet hat; nicht darin, dass er mit fünf Broten und zwei Fischlein fünftausend Menschen speiste; auch nicht darin, dass er die Toten wieder ins Leben rufen konnte. Dies alles war Macht. Aber seine Macht war, dass er sein Leben lassen konnte. Und zwar nicht erst am Kreuz, sondern sein ganzes Dasein war ein fortgesetztes „Lebenlassen“.
Er hat sich durch den ewigen Geist Gott geopfert, schon in den täglichen Schwierigkeiten. Und so wurde er reif, das große Opfer am Kreuz zu bringen. Von seinem Volk nicht aufgenommen, von seinen Jüngern nicht verstanden, von seinen Familienangehörigen für irrsinnig erklärt, von den Führern des Volkes als Verführer gestempelt zu werden - dies alles bedurfte großer Tragkraft. „Und wie ist, so sind auch wir in dieser Welt!“ Darum sagt er in Offenbarung 3,12: „Ich will dich machen zur Säule in meines Gottes Haus.“ Wozu braucht man eine Säule? Nicht zu einem Zierrat, sondern um eine Last zu tragen. Leute, die bewundert werden wollen, sind keine Säulen, die brechen zusammen, sobald es etwas zu tragen gibt. Leute, die empfindlich sind, sind keine Säulen, denn empfindlich sein, ist gerade das Gegenteil von tragen.
Sehr oft, wenn ich auf einem Bahnsteig stehe und die Eisenbahnwagen vor mir sehe, fällt mein Blick auf jene Ecke am Wagen, wo geschrieben steht: soundso viel tausend Kilogramm Tragkraft. Und es steigt gewöhnlich in mir die ernste Frage auf: „Wieviel Tragkraft hast du?“ Wir brauchen Leute, die Tragkraft haben; ganz besonders brauchen wir solche in den christlichen Gemeinschaften, Leute, an denen sich der Geist der Empfindlichkeit und der Zertrennung bricht. Im Hause Gottes braucht man mehr Tragkraft als im Wirtshaus. Im Wirtshaus kann man davonlaufen, wenn es einem nicht gefällt, und man kann zusammenbrechen lassen, was zusammenbrechen will, aber nicht so hier. Da heißt es: Drunter bleiben! Unter der Last bleiben wie die Säule unter der ihrigen, das heißt Geduld haben. Es kann ein guter Mensch auf Erden durch böse Menschen besser werden.
Wie überwand Jesus? Nicht anders denn als Lamm! Was charakterisiert das Lamm? Es heißt sowohl im Alten als auch im Neuen Testament: „Er trug!“ Leute, die dem Lamme folgen, sind Leute, die Tragkraft haben. Wo diese fehlt, fehlt immer auch der Heilige Geist. Der Fels lässt sich schlagen und gibt lebendiges Wasser. Als man den Felsen Christus schlug, schlug bis zum Tode, da floß lauter Liebe, lauter Leben von ihm. Was fließt von uns, wenn man uns schlägt? Wasser des Lebens oder Mara, bitteres Wasser? Als Stephanus von seinem Volke gesteinigt wurde, rief er mit verklärtem Angesicht gen Himmel: „Herr, behalte ihnen diese Sünde nicht!“ Und als Paulus von seinem Volk ausgestoßen wurde, da konnte er sagen: „Ich habe gewünscht, verbannt zu sein von Christus für meine Brüder nach dem Fleisch“ (Röm 9,3). Das ist Tragkraft! Das ist Christentum! Das ist praktische Gnade!
Die Bibel spricht nicht nur von einer vergebenden, zuvorkommenden, wiederherstellenden Gnade usw., sondern auch von einer „praktischen“ Gnade. Fragen wir Petrus, was Gnade sei, so antwortet er uns: „Das ist Gnade, so jemand das Übel verträgt“ (1. Pet 2,19-21). Überhaupt handeln die beiden Petrusbriefe vornehmlich von dieser praktischen Gnade. Frage den Schaffner, der den eben eingefahrenen Schnellzug entlang springt und mit seinem Hammer an jedes Rad schlägt: „Warum schlagen Sie an das Rad?“ „Um zu sehen, ob es gut ist“, ist seine Antwort. „Woran erkennen Sie, dass es gut ist ?“ „Wenn der Ton voll und ruhig ist“ Sich schlagen lassen und dabei ruhig bleiben, das heißt, seine Probe machen, das heißt der Welt das wunderbare Licht des Evangeliums verkündigen, das heißt ihr den Meister zu zeigen.
Ein Prediger, dem jemand ein großes Unrecht zugefügt hatte, sprach erregt zu seiner Frau: „Dem will ich den Meister zeigen!“ „Welchen Meister?“ fragt seine Frau mit sanfter Stimme. Da erschrak der Prediger und sagte beschämt: „Ja, diesmal hätte ich ihm nicht den Meister, sondern mich gezeigt.“ Anderen den Standpunkt klarmachen - wie man zu sagen pflegt - kann man nur, wenn man einen Standpunkt hat in den Fußstapfen des Lammes, in seiner Liebe, in seiner Demut usw.
Artikelreihe: Der Weg dem Lamme nach
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